Goeters-Preis 2001

Die - wie sie damals noch hieß - "Historische Kommission für den reformierten Protestantismus e.V." hatte zwischen der 2. und der 3. Emder Tagung den J.F.Gerhard Goeters Preis ausgelobt. Der Preis, der an Person und wissenschaftliches Lebenswerk des 1996 verstorbenen Bonner Kirchenhistorikers J.F. Gerhard Goeters erinnern soll, wurde am 18. März 2001 für eine hervorragende Arbeit zu einem Thema der Geschichte des reformierten Protestantismus vergeben.

Den Preis, der erstmals vergeben wurde, erhielt Daniel Bolliger für
seine von der theologischen Fakultät der Universität Zürich im
Sommersemester 2000 angenommene und beim Verlag Brill (Leiden) 2003 publizierte Dissertation:

Infiniti contemplatio. Grundzüge der Scotus- und Scotismusrezeption im Werk Huldrych Zwinglis.

 

Gerne geben wir hier die Dankesrede von Daniel Bolliger, gehalten am Abend des 18. März 2001, wieder:

 

 

Sehr geehrter Herr Vorsitzender
und sehr geehrte Angehörige des Vorstandes der Historischen Kommission,
sehr geehrte Damen und Herren!

Wir Reformierten wissen: "Man muss mit dem Anfang anfangen". Das französische Adagium gilt auch und ganz besonders fürs Danken. Mein Dank gilt darum zu aller erst der Historischen Kommission, ihrem Vorstand und ihrem Vorsitzenden, Herrn Professor Klueting: In der von äusserlichen Motivationsanreizen nicht verwöhnten scientific community des deutschsprachigen Reformiertentums entwickeklten Sie die segensreiche Idee, an die Person und das von Ihnen eben geschilderte immense wissenschaftliche Lebenswerk des Doyens reformierter Historiographie Johann Friedrich Gerhard Goeters durch einen wissenschaftlichen Preis zu erinnern. Dankbar neige ich mich vor dem mir unbekannten Stifter des Preises, der die Verwirklichung dieser Idee aller erst ermöglichte. Dass nun die Zuerkennung des ersten Gerhard-Goeters-Preises just an die Arbeit geht, die mich die letzten Jahre so intensiv beschäftigte, erfüllt mich mit tiefem Dank und bedeutet mir mehr mehr, als hier öffentlich in Worte zu fassen angemessen wäre. Als mich die Nachricht persönlich erreichte, fühlte ich mich, genau elf Stunden vor der Geburt unseres ersten Kindes, plötzlich selber wie neugeboren

Dass der junge (Zitat) "Zwingli im wesentlichen uneingeschränkt als ein scholastischer Theologe scotistischer Schulrichtung mit einem gemeinkatholischen Frömmigkeitsverständnis [...] anzusehen"[1] ist, hat in pionierhafter Klarheit Gerhard Goeters wörtlich schon zu einem Zeitpunkt formuliert, da sich die thematischen Berührungen des ersten Empfängers des nach ihm genannten Preises darauf beschränkten, einer nach Zwingli bennanten Kirche getauft zu werden. Die gut drei Jahrzehnte später erfolgende Ergänzung aus den Resultaten meiner Studie geht nun dahin, dass nicht allein der junge, sondern eben auch der Reformator Zwingli, zwar nicht uneingeschränkt, aber doch wiederum in wesentlichen Zügen als ein scotistisch geformter Autor wirkte. Die unerlässliche paläo- , aber auch doxographische Plausibilisierung dieser These an einem weit vor die Reformation zurückreichenden, teils unbegangenen Quellenfeld war, mit einem treffenden Bild von Gerhard Goeters zu sprechen, "Eichhörnchenarbeit, Nuss für Nuss"[2], die es zu knacken galt. Sie geht zurück auf eine Anregung des Zürcher Kirchenhistorikers Alfred Schindler angeregt, dem ich auch hier dafür herzlich danke. Dass nun eine Studie mit auch mediävistischem Profil in diesem Kreis Anerkennung erfährt, möchte ich darum nicht allein ein als ein Zeichen persönlicher Ermutigung betrachten, um das ich sehr froh bin. Es sei mir gestattet, es auch als ein Signal an alle in irgend einer Form mediävistisch tätigen Forscher im Protestantismus, vor allem im Reformierten Protestantismus, wahrnzunehmen. Damit die ganze Vielfalt und spirituelle Tiefe der Anfänge reformierten Glaubens zur Geltung kommen kann, wird es eine immer dringendere und angesichts der aktuellen Entwicklung der Mediävistik auch immer lohnendere Aufgabe, die Prozesse seiner Entstehung und konfessionellen Formung freizulegen von den noch immer übermächtigen Präsumptionen einer als Bruch vorgestellten Epochengliederung im Gefolge des Idealismus. Wir brauchen, davon bin ich überzeugt, eine neue, zu lohnenden Interpretationsfährten aller erst hinlenkende Hermeneutik des Verdachts auf epochentranszendierende Konvergenzen.

Der Reformator Zürichs selber berief sich erst nach Jahren überschäumender und vieles Ererbte vorerst überdeckender Erasmusbegeisterung, teils sehr explizit, oft aber auch gleichsam schamhaft versteckt, wieder zunehmend auf die scholastischen Grundlagen seines Denkens. Eine Wende im theologischen Begründungsduktus lässt sich markant seit Beginn der Abendmahlsdebatte an zwei Hauptfiguren franziskanischer Philosophie verfolgen: Der scotisch-scotistischen Basisdoktrin vollkommener Improportionalität von Endlichem und Unendlichem wie auch der mit ihr sachlich verbundenen Formalitätenlehre. Beide formen über die diversen Einzeltopoi hinaus, in denen sie in den reformatorischen Schriften erscheinen, Zwinglische Denkstrukturen ingesamt. So wie bei Duns die äusserst subtil ausgearbeitete Axiomatik der finitum-infinitum-Improportionalität die Mitte seines Systems besetzt, ist sie bei Zwingli ein tragender Eckpfeiler, wenn nicht der eigentliche Nerv seiner theologischen Überzeugungen und Äußerungen: Gott allein ist unendlich, darum gilt allein ihm die Verehrung aller endlichen Geschöpfe. Konvergenz zeigt sich konkret nicht nur in zahlreichen terminologischen Entscheiden und inhaltlichen Rezeptionsvorgängen in der Sakramentenlehre und der sie stützenden Christologie, sondern, systemgenetisch davon ausgehend, auch in der Kosmologie und Schöpfungslehre, in der Pneumatologie und in der Ethik. Immer wieder setzt Zwingli an tragender Stelle für seine Gedankengänge eben die Argumente ein, die schon die Scotisten zu Beweis und Definition des Infiniten verwandten: Logische Unmöglichkeit einer Plurifizierung des Infiniten, Koinzidenz von Infinität und Äternität, Infinität als modus intrinsecus des göttlichen Wesens, Gottesschau als Infinitätsgenuss, und, dies eher vulgär-scotistisch, Infinität als Immensität.

Wie soll aber angesichts besagter Improportionalität für Christus eine endliche Natur mit der unendlichen in einer Person zusammengedacht und wie soll bei den Sakramenten die Kraft unendlicher Gottheit mittels durchaus endlicher Materie heilsbringend mitgeteilt werden können?! Diese scheinbar unüberwindliche Problemkonstellation wird wie bei allen Scotisten so auch von Zwingli mittels der einen Gipfelpunkt spätmittelalterlicher Transzendentalienmetaphysik darstellenden Formalitätenlehre angegangen. Deren Konkretion in der Figur der sog. Formaldistinktion applizierten die von ihrer Umwelt gerne als formalistae oder gar formaliçantes bezeichneten Scotisten vor allem auf die im Mittelalter so heikle Trinitätslehre und damit auch die Christologie. (Um sie etwas an der hinter diesen Termini stehenden Gedankenakrobatik teilhaben zu lassen: Die drei Personen in Gott sind voneinander nicht mehr nur rational, also nur in der menschlichen ratio oder unserem Kopf, unterschieden, wie bei den Thomisten. Noch weniger freilich sind sie real voneinander zu trennen; diese in der Konsequenz tritheistische These hätte jedem sie vertretenden Sententiar nicht den Doktor- , sondern einen Ketzerhut eingebracht! Vielmehr sind sie voneinander und von der Essenz Gottes als Formalitäten zu distinguieren. Diese formale Distinktion erlaubt es von der formal von den andern beiden Supposita durch ihre Fähigkeit zur hypostatischen Union formal unterschiedenen Person des Sohnes das zu prädizieren, was für die unendliche Gottheit an sich undenkbar blieb: Gemeinschaft der Idiomata der Natur des endlichen Menschen Jesus mit derjenigen seines göttlichen Suppositums.) Wie er 1528 in einem aparten Exkurs über den 1511 verstorbenen Freiburger Magister Antonius Beck, aber an auch weiteren Stellen, in gut scotistischer Terminologie ausführt, folgt ihnen Zwingli auch hierin. Je stärker überhaupt der publizistische Druck und somit sein Bedürfnis nach autoritativer Legitimierung seiner Sicht wird, desto mehr erinnert sich Zwingli in den späten zwanziger Jahren seines Bildungsgangs, zweifellos, weil seine individuelle Erinnerung hier ganz dem kollektiven Gedächtnis der Umwelt entsprach - und somit einen Plausibilitätsgewinn einbrachte, den er zu diesem Zeitpunkt weder von patristischen noch von humanistischen Argumenten mehr wirklich erhoffen konnte.

Zwingli also ein Paradeexempel für den klassisch von Troeltsch und unlängst provokant formulierten Verdacht, die Reformation sei "the last hurrah of the Middle Ages, not the beginning of the modern world"[3]?! Die Befürchtung, dass eben das für die reformierte Konfession unterminiert werden könnte, was gerne als Neuzeitfähigkeit reformatorischer Theologie apostrophiert wird, hat sicherlich viel dazu beigetragen, dass eine längst angemahnte Untersuchung zum Zwinglischen Mittelalterbezug immer wieder ausblieb. War es nicht bislang so gut wie unangefochtener Konsens der Forschung, dass Zwingli der sogenannten via antiqua und nur ihr verbunden gewesen sei, dass also seinem Denken im Wesentlichen eine Repristination der hochscholastischen Systembauten vor allem im Gefolge der Thomisten zu Grunde gelegen habe? Wie aber soll von einer klassisch-thomistischen Stufenmetaphysik in gut mittelalterlicher Einheitskosmologie eine Brücke zu einem frühmodernem Weltbild oder einer rechtens frühreformiert zu nennenden Theologie hinführen können? In der Tat eine kaum zu beantwortende, aber glücklicherweise auf einer - innerhalb der Zwingliforschung zwar gleichsam kanonisierten, aber dennoch stark - schiefen Alternative beruhende Frage. Schief schon darum, weil von dreizehn nachweislich von Zwingli benutzten - wie Tausende von vermutlich von 1508 bis 1514 angefertigten Unterstreichungen, Annotationen und Querverweisen belegen - scholastischen Werken nebst diversen richtungsindifferenten Standardwerken nur eines, rein zufällig durch Erbschaft vom Glarner Vorgänger Stucki in Zwinglis Bibliothek gelangtes, thomistischer Prägung, sieben aber scotischen oder scotistischen Inhalts sind. Schief aber vor allem deshalb, weil Duns Scotus an oder sogar eher jenseits der Schwelle zwischen der Hoch- und der Spätscholastik lehrte, sein Denken daher in Manchem das metaphysische Gewand hochmittelalterlicher Metaphysik trägt, in den theologischen Intentionen und Folgen aber das gesamte Spätmittelalter in allen seinen zur frühen Neuzeit überleitenden Flügeln, auch den Scotismus-kritischen, massgeblich prägte. Das gilt inbesondere für die Konzeption der göttlichen Unendlichkeit: Trotz aller Kritik an den logischen Vorgaben, mit denen sie bei Duns verbunden ist, übernimmt sie Wilhelm von Ockham mit beinahe allen seiner Schüler, perspektivisch gebrochen zwar, aber in derselben theologischen Fluchtlinie fortfahrend. Es lässt sich auch an weiteren Lehrpunkten, nicht zuletzt auch an der Formalitätenlehre, zeigen für den konkreten Rezeptionskontext des süddeutschen, d. h. vor allen Dingen Tübinger, Mainzer und Freiburger Reformscotismus um die Doktoren Brulefer, Scriptoris, Summenhart und Northofer, in dem Zwingli geistig und geistlich aufwuchs und atmete.

 

Die gegenüber der mittelalterlichen Einheitsmetaphysik enorm wachsende Sensibilität für die Kontingenz innerweltlichen Geschehens wie auch die ihr koresspondierende zunehmende Freiheit Gottes gegenüber der Welt: Diese entscheidende Neukonturierung der geistigen Landkarte Europas durch das franziskanische Denken findet sich in Zwinglis reformatorischer Theologie daher zwar nicht in derselben Form, in ihren Effekten aber genauso sehr wie in der aller anderen Reformatoren auch. Dass der Reformator Zürichs diese der gesamten Reformation zuspielende franziskanische Konturierung konkret in ihrer originärsten, nämlich scotistischen Form rezipiert hat, ist aber zugleich auch schon ein - und meiner Ansicht nach zentrales - Moment reformierter Konfessionsbildung. Zwischen der vom Scotismus in alle spätmittelalterlichen Richtungen hinein wirksamen Axiom völliger Improportionalität von finitum und infinitum und dem konfessionellen reformierten finitum non capax infiniti ist Zwinglis theologischer Werdegang und direkter und indirekter publizistischer Einfluss die entscheidende, weil gerade als epochenverbindende zugleich auch konfessionsbegründende Brücke.[4] "Reformierte Theologie und Kirche an der Schwelle zum neuen Millennium"[5] verfolgen und sind wir also heute, weil in der Mitte des vergangenen Milleniums ein Leutpriester in Glarus, mit Johann Friedrich Gerhard Goeters Worten, "im wesentlichen uneingeschränkt als ein scholastischer Theologe scotistischer Schulrichtung" geprägt wurde, bevor er seinerseits als Reformator andere prägen sollte.

 


[1] Goeters, Johann Friedrich Gerhard: Zwinglis Werdegang als Erasmianer, in: Reformation und Humanismus, Robert Stupperich zum 65. Geburtstag, Witten 1969, 255-271.

[2] Klueting, Harm: "So sammele ich weiter. Gerade die dubiose Gegenwartsentwicklung nötigt zur Historie". Johann Friedrich Gerhard Goeters. Doktor und Professor der Theologie (1926-1996). Ein Porträt statt eines Nachrufes, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 91 (1997), 13-25: 21.

[3] Ozment, Steven: Protestants. The Birth of a Revolution, New York 1992, 219.

[4], Dies gegenüber der die Kontinuität mit den sie umschliessenden Zeiträumen immer stärker azentuierenden Frühneuzeitforschung herauszustreichen, halte ich für eine sich als auch konfessionsgebunden verstehende Reformationsgeschichte enscheidend, ja vielleicht überlebenswichtig: Der Einbezug philosophischer und auch theologischer Momente der Kontinuität ist für gerade eine Perspektive der longue durée konstitutiv!

[5] Titel des anschliessend auf der 3. Emder Tagung gehaltenen Eingangsvortrags durch Prof. Dr. Jörg Haustein.